Brecht im Alltag

In totalitären Regimen erreicht die Theatralität des Lebens ihren Höhepunkt und das politische Theater spielt keine große Rolle mehr. Im Leben der Bewohner eines totalitären Regimes, das von Politik und Ideologie durchdrungen ist, gibt es dafür einfach keinen Bedarf. Die Diktatoren spielen ihr Spiel im Radio, im Fernsehen, in Zeitungen, Zeitschriften und den offiziellen Internetmedien, und die Opposition spielt ihr Spiel in den sozialen Netzwerken im Untergrund. Wovon Brecht träumte, ist längst eingetreten: Nach dem Betrachten von YouTube-Videos, Memes oder Beiträgen in sozialen Netzwerken beginnt das Publikum zu reagieren, tauscht manchmal den Platz mit dem Autor und nutzt die Kommentarfunktion. So entsteht Tag für Tag ein endloser Metatext eines politischen Dramas. Der Empfänger ist zum Sender geworden, ein Dialog, wenn auch ungleich, ist entstanden. Die da oben nennen es gern Demokratie. Und all das wird mit dem Geld der Zuschauer aufrecht­erhalten: Sie sind es, die Steuern zur Unterstützung der offiziellen Propaganda zahlen und für die Opposition spenden. Diejenigen, die Interaktivität wünschen, gehen zu Kundgebungen.

—Irina Rastorgueva, »Das Russland-simulakrum«, (Berlin: Matthes & Seitz, 2022), 164-165.

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